Spandauer Thesen - These 10
Der Kampf um das ‚Ganze der Arbeit‘
Die Gesellschaft jenseits des Fordismus wird nach unserer Überzeugung eine Arbeitsgesellschaft bleiben. Aber bei der Entwicklung einer neuen Politik der Arbeit wird es für die Gewinnung der Zukunft darum gehen, das ‚Ganze der Arbeit‘ im Blick zu haben. Es muss also die produktive wie auch reproduktive Dimension als materielle Grundlage aller Wirtschaftsprozesse berücksichtigt werden.
Begründung
Der Kampf um gute Arbeit setzt so im Zentrum des Erwerbssystems an und weist doch über es hinaus. Das entspricht einer generellen Orientierung, von der wir ausgehen. Die Gesellschaft jenseits des Fordismus wird nach unserer Überzeugung eine Arbeitsgesellschaft bleiben. Aber bei der Entwicklung einer neuen Politik der Arbeit wird es für die Gewinnung der Zukunft darum gehen, das ‚Ganze der Arbeit‘ im Blick zu haben. Es muss also, selbst noch auf dem Boden einer kapitalistischen Ökonomie, sowohl die produktive wie auch reproduktive Dimension aller Wirtschaftsprozesse berücksichtigt werden, ohne die deren unverkürzte materielle Reproduktion nicht möglich wäre. Gerade angesichts der Entgrenzung von Arbeit, oder richtiger angesichts neuer Grenzkonflikte um Arbeit, die daraus folgen, gilt im Blick auf alle Dimensionen von Nachhaltigkeit, dass es hier doch immer auch um einen Kampf um das Ganze der Arbeit geht.
Aus ökologischer Perspektive wie auch aus der Gender-Perspektive ist die ausschließliche Zentrierung der Arbeit auf Erwerbsarbeit nicht nur eine Verengung, sondern auch eine Bedrohung. Und zwar deshalb, weil dieser Verengung eine Trennung unter fragwürdigen Vorzeichen vorausgeht – die Trennung zwischen sog. ‚produktiven’ und bloß ‚reproduktiven’ Bereichen der Arbeit. Produktion geschieht in dieser verkürzten Perspektive in Unternehmen und an Märkten, d.h. im Kontext der Akkumulation von Kapital, und Erwerbsarbeit gilt als die eigentlich produktive Tätigkeit. Reproduktion erfolgt in der alltäglich erlebten sozialen Lebenswelt v.a. der Lohnabhängigern (d.h. in Familien bzw. in Haushalten), sowie im Umgang mit der natürlichen Mitwelt. Sie erscheint in ihrer gesellschaftlichen Wertigkeit als unter- bzw. nachgeordnet. Diese Trennung ist zentrale Ursache für die ökologische Krise, wie auch für die Krise der Reproduktionsarbeit. Soll Arbeit „naturgemäß“ und „lebensfreundlich“ gestaltet werden, so bedeutet das, das „Ganze der Arbeit“ (Adelheid Biesecker) in den Blick zu nehmen und so neu zu gewichten und zu organisieren, dass nicht nur Kapital akkumuliert wird, sondern die Reproduktivität der ökologischen Natur, wie auch der sozialen Lebenswelt, langfristig erhalten bleibt. Es geht dabei auch um die Versorgungsökonomie und um eine Neubewertung von Sorgearbeit. Hierüber wird sich in einem Bündnis von Gewerkschaften, ökologischen Organisationen und Frauenbewegungen eine neue Qualität von Wohlstandszielen einer Gesellschaft entwickeln und verankern lassen.
Dieses „Ganze der Arbeit“ umfasst menschliche Unterstützungstätigkeiten für natürliche Produktionsprozesse, die Umwandlung von Naturstoffen in für Menschen nützliche Produkte und Dienstleistungen, die konsumtive Verwendung dieser Produkte und Dienstleistungen bis hin zu ihrer Rückführung ihrer ‚Reste’ in natürliche Kreisläufe, sowie schließlich menschliche Tätigkeiten, welche den natürlichen Reduktionsprozess begleiten und schützen.
Alle vier Arbeitsarten sind für den Reproduktionsprozess gleich wertvoll, in diesem Sinne gleich produktiv. Der Sache nach gibt es hier keinen Grund für Werte-Hierarchien. Es kommt vielmehr darauf an, das kooperative Zusammenwirken aller Arbeitsarten so zu gestalten , dass die Naturproduktivität erhalten bleibt. Das erfordert eine besondere Rationalität zugrunde: Die des Schutzes, des Erhaltens, der Vor-Sorge. Bei dieser Neugestaltung von Arbeit, bei der Transformation der Erwerbsarbeit in ein bewusst gehandhabtes Moment des „Ganzen der Arbeit“, geht es um langfristige Prozesse. Hier haben die Gewerkschaften als wichtige Akteure eine anspruchsvolle Aufgabe, die sie nicht allein, aber in Bündnissen wahrnehmen können.
Der Begriff der „Vollbeschäftigung“ bezieht sich in einem derartigen Konzept des „Ganzen der Arbeit“ nicht mehr auf Erwerbsarbeit allein, sondern auf alle Arbeitsbereiche. Durch Integration aller Menschen in diese verschiedenen Bereiche der Arbeit kann das Problem der Arbeitslosigkeit nachhaltig bewältigt werden.
Nimmt man auf diese Weise wirklich „das Ganze der Arbeit“ in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften in den Blick, die – entgegen dem neoliberalen Zerrbild und unbeschadet der Verwertungsprobleme des Kapitals – immer noch immer reicher werden, so kommt man zu dem Ergebnis, dass wir durchaus nicht alle mehr in der Sphäre der Erwerbsarbeit arbeiten müssen, um unseren Wohlstand zu sichern. Es ist vielmehr so, dass wir nicht mehr so viel Zeit für Erwerbsarbeit haben, wenn wir die Chancen der weiter wachsenden Produktivität innerhalb des Systems der Erwerbsarbeit nutzen wollen, um die damit auch wachsenden Potentiale einer wirklich freien Gestaltung unseres sozialen Zusammenlebens in allen Sphären der produktiven gesellschaftlichen Arbeit wirklich zu nutzen.
Das ist eine Zukunftsvision – den Weg dorthin zu gestalten, ist eine wesentliche Aufgabe derer, die die Interessen im Rahmen der tradierten Erwerbsarbeit vertreten – die Gewerkschaften sind hier dringend gefragt.
Die aktive Teilhabe am politischen Gemeinwesen wird sich auch weiterhin auf Teilhabe an gesellschaftlicher Arbeit gründen, auch wenn es gelingt, das ‚Reich der freien Tätigkeit’ in Politik oder Kunst für alle auszuweiten.