Spandauer Thesen - These 4
Eine emanzipatorische Alternative
Dem neoliberalen Einheitsdenken, das unter Berufung auf vermeintlich unausweichliche Zwänge der Globalisierung einseitig auf Wettbewerbsfähigkeit orientiert, setzen wir das Leitbild einer ‚Nachhaltigen Entwicklung‘ entgegen, welche die Krisen und Katastrophen (Arbeitslosigkeit, Welthunger, AIDS, ökologische Krise, Krise der Demokratie usf.) der gegenwärtigen Welt wirksam angeht: Dieses bezieht sich auf die Dimensionen der Ökologie, des Sozialen und des Ökonomischen, d. h. auf die Anerkennung der ökologischen Grenzen menschlicher Lebensweisen einschließlich der Beachtung der Erfordernisse der Reproduktionsfähigkeit des Ökosystems für die weitere Wirtschaftsentwicklung und die Anerkennung sozialer Nachhaltigkeit mit humaner und existenzsichernder Arbeit für alle, inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit, Armutsbekämpfung weltweit usf., welche sich nicht ohne beständige Weiterentwicklung demokratischer Politik verwirklichen lässt.
Begründung
Unter dem Druck vermeintlich unausweichlicher Zwänge der Globalisierung sind die 1990er Jahre zum Jahrzehnt des Neoliberalismus geworden, anstatt zum Beginn einer ökologischen und sozialen Erneuerung. Die strukturellen Grundlagen des ‚Elends der Welt‘: Wachsende verfestigte Arbeitslosigkeit, fortgesetzte und zunehmende Hungerkatastrophen und epidemische Krankheiten (AIDS), zunehmende Naturkatastrophen als Folge des Klimawandels und eine schleichende Krise der Demokratie als Folge des Versagens der Politik prägen unsere gesellschaftliche Wirklichkeit.
Die Menschheit hat durch ihre zivilisatorische Entwicklung globale Strukturkrisen ausgelöst: Artensterben, Klimaveränderungen, Zerstörung von Teilen der Ozonschicht in der Stratosphäre sind nur Teile eines umfassenderen Krisenprozesses, der sich aus einer dauerhaften, globalen Überschreitung der ökologischen Grenzen ergibt.
Das große ‚Geschenk der Natur an die Menschheit’, auf ihrer fortwährenden Grundlage leben und produzieren zu können, ist durch einen grenzenlos gedachten Prozess universal betriebener technologischer Umwälzungen immer auch in der Gefahr seiner Zerstörung durch menschliche Praxis. Die Regierungen der Nationalstaaten konnten nicht umhin, sich neuen Strukturkrisen infolge der drohenden Überschreitung ökologischer Grenzen zumindest konzeptionell zu stellen: In einem langen historischen Prozess, der vom Weltumweltgipfel in Stockholm (1972) über die Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992 und Johannesburg 2002 bis zur EU-Strategie von Göteborg und deren Überarbeitung im Zuge der Überprüfung der Lissabon-Strategie reicht, hat sich das politische Konzept der nachhaltigen Entwicklung als ein weltweit verbindlich vereinbarter Rahmen für Auseinandersetzungen und Einigungen über Ziele und Kriterien einer Gestaltung der weltweit miteinander verknüpften gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse durchgesetzt. Die heute noch hegemonialen neoliberalen Konzepte eines schrankenlos angelegten Marktliberalismus haben, insbesondere in wichtigen weltweit agierenden Mächten - wie den USA und der EU und in weltweit verantwortlichen Institutionen wie WTO, Weltbank und IWF prägende Bedeutung. Das ermöglicht es, die Debatte über die Nachhaltigkeit der gegenwärtig vorherrschenden Entwicklungsmodelle mit Anforderungen der ökologischen Tragefähigkeit, der langfristigen ökonomischen Reproduktionsfähigkeit, des sozialen Zusammenhalts und der demokratischen Entscheidungsfindung zu konfrontieren, die das neoliberale Denken als ‚unrealistisch’ und ‚utopisch’ abzuqualifizieren versucht. Dabei kann und muss allen Versuchen, das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung von den Anforderungen der realen Krisen zu lösen und zu einem rein diplomatischen Instrument technokratischer Berichterstattung zu pervertieren, direkt mit Erfahrungen und Befunden der konkreten Nicht-Nachhaltigkeit entgegengetreten werden. So kann gegen die Versuche einer eindimensionalen Rationalisierung unter kurzfristigen Interessenvorgaben immer wieder von Neuem ein mehrdimensionaler Diskurs über gesellschaftliche Prozesse und Trends eingefordert und durchgesetzt werden.
Das schließt auch die Notwendigkeit mit ein, entsprechende Trägerzusammenhänge für demokratische Debatten und praktische Initiativen zu konstituieren, in denen die notwendige Mehrdimensionalität und Langfristigkeit von Analyse und Aktion konkret erreicht werden können.
Nachdem der neoliberale Diskurs in den 1990er Jahren weitgehend erfolgreich jede Thematisierung von Herrschaftsstrukturen in Wirtschaft und Gesellschaft hat marginalisieren können, haben inzwischen die Erfahrungen mit ungelösten Strukturkrisen gerade auch in dem von ihm besonders beanspruchten Bereich der Wirtschaft wieder Raum dafür geschaffen, dass die Frage nach dem ‚Kapitalismus’ sinnvoll gestellt werden kann – zumindest als Frage nach seiner erneuten politischen ‚Bändigung’, wenn nicht sogar seiner schrittweisen Überwindung, durch eine radikal demokratische Wirtschaftspolitik. Dabei muss es allerdings um konkrete Strategien und Maßnahmebündel gehen – und nicht einfach um ein bloßes ‚Dampfablassen’ durch das bloße In-den-Mund-Nehmen dieses lange tabuisierten K-Wortes.
In der aktuellen Phase tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche und allgemeiner Verunsicherung sollte die gegenwärtige gesellschaftliche Hegemonie des Neoliberalismus nicht als zu stabil und geschlossen gezeichnet werden. Durch differenzierte Analysen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sind fundierte alternative Strategien möglich!
Die Gewerkschaften hätten mit ihnen die Möglichkeit, sich auch ein neues ‚Image’ einer alternativen Modernisierung aufzubauen, indem sie in Netzwerkbündnissen zu neuen Politikformen finden und neue Beschäftigtenbereiche für sich erschließen. Schon jetzt zeigt sich, dass ‚Events’, wie Welt- und europäische Sozialforen, der Perspektivenkongress 2004, gelungene Großdemonstrationen oder gut vorbereitete exemplarische Kampagnen, wie die zu „Lidl“, auch in der medialen Öffentlichkeit nicht ignoriert werden und hierüber zusätzliche Wirkungen erzeugen.
Statt fortgesetzter Anpassung an vermeintlich naturgegebene Zwänge einer entbetteten Ökonomie, strukturell gekoppelt mit einem grenzenlos gedachten technischen Fortschritt, fordern wir die Anerkennung der ökologischen Grenzen menschlichen Lebens und der conditio humana. Ebenso die nachhaltige Erfüllung der Erfordernisse der Reproduktionsfähigkeit des Ökosystems für die weitere Wirtschaftsentwicklung und die Anerkennung sozialer Nachhaltigkeit (von menschenwürdiger und existenzsichernde Arbeit für alle, inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit, von Armutsbekämpfung weltweit usw.). Alles dies, davon sind wir überzeugt, wird sich ohne beständige Weiterentwicklung demokratischer Politik nicht verwirklichen lassen. In einer solchen Weiterentwicklung liegt auch die Chance zu einer emanzipatorischen Politik, für die sich Menschen wieder begeistern lassen könnten.