Neue Wirtschaftsdemokratie
Eine Einführung - Teil 4
Die Herausforderungen annehmen
Wir sind heute mit einer globalen Krise in ihren unterschiedlichsten sich überlagernden und verstärkenden Dimension konfrontiert, die eine wirklich fortschreitende zivilisatorische Zukunftsentwicklung gefährden. Eine zentrale Ursache dieser globalen Krise sind unkontrollierbare ökonomische Macht- und Herrschaftsstrukturen des Kapitals und eine deregulierte Ökonomie, deren zentrale Aufgabe nicht die Erzeugung und weitere Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Menschen ist, sondern in der ökonomische Leistungen allein zum Zweck immer schnellerer und höherer Profitaneignung produziert werden. Die aktuelle Finanzmarktkrise hat dies in aller Deutlichkeit, Rücksichtslosigkeit und Brutalität gezeigt. Der ökonomische, soziale, kulturelle und politische Schaden ist massiv, aber der Finanzmarktkapitalismus hat sich trotz der neuen Weltwirtschaftskrise als stabiler erwiesen als zunächst von manchen, auch in den Gewerkschaften, erwartet (Urban 2009). (S. 59)
Doch die ökonomische Krise ist keineswegs überwunden, nicht zu sprechen von den ökologischen und politischen Krisenprozessen. Die herrschende Form der Ökonomie ist nicht zukunftsfähig. Es bedarf einer kritischen Gegenbewegung, die den allgemeinen Gebrauchswertnutzen der Ökonomie zum Ziel hat und sich als konsistenten Teil eines demokratischen Gemeinwesens begreift. Kurz, es bedarf der Durchsetzung von mehr Demokratie in der Ökonomie, um sie an den Lebens- und Kulturinteressen aller Menschen auszurichten und nicht am schnelle Geld von wenigen. Diese Herausforderung ist abstrakt richtig, nicht neu und bis heute ungelöst. Die großen historischen Gegenentwürfe zu diesen Herausforderungen des Kapitalismus im Namen des Sozialismus sind im letzten Jahrhundert gescheitert. Die Versuche seiner wohlfahrtsstaatlichen Zähmung im Rahmen einer gemischten Wirtschaft, die mit dem Schub der Erfahrungen des New Deal und im Zeichen der Herausforderungen des „real existierenden Sozialismus“ nach dem Ende des zweiten Weltkriegs für einige kurze Jahrzehnte hegemonial geworden sind, wurden und werden immer noch, im Zeichen der neoliberalen Landnahme (Dörre) zersetzt. Der real existierende, finanzmarktgetriebene Kapitalismus ist dennoch nicht das Ende der Geschichte, wie die real existierende globale Krise zeigt. Ein neuer Anlauf zur Durchsetzung des Primats der Politik gegenüber der Ökonomie ist historisch zwingend notwendig. Er muss ausgehen von den in den fortgeschrittenen westlichen Gesellschaften historisch schon einmal erreichten Ansprüchen und Rechten einer sozialen Bürgerschaft Aller. Die Frage von Demokratie und Ökonomie rückt damit ins Zentrum humaner und sozialer Zukunftsgestaltung. Diese Herausforderung erfordert eine globale Antwort. Sie ist aber keine abstrakte Systemfrage, sondern sie zielt auf die ganz konkrete Entwicklung und Durchsetzung von verändernden Eingriffen in die herrschende ökonomische Logik. Neue Wirtschaftsdemokratie kann in diesem Sinne als zu entwickelnder Zusammenhang konkreter Übergangsforderungen verstanden werden, hin zu einem der gegenwärtigen Globalisierung im neoliberalen Geist entgegen gesetzten „ganz anderen normativen Geflecht“ (Negt 2006,68). Sie setzt also nicht einfach - und gegenüber leidvollen Erfahrungen unkritisch - an der Eigentumsfrage an (wie sie mit ganz anderen Horizonten etwa auf Riffkin [access] thematisiert hat), sondern vorrangig an konkreten Fragen der Verteidigung und Ausweitung der einander wechselseitig verliehenen sozialen Bürgerrechte Aller zur Wahrnehmung und Weiterentwicklung ihrer demokratischen Ansprüche und Rechte. Es geht um nicht weniger als um die Verteidigung und Weiterentwicklung des demokratischen Projekts der Moderne, das mit den Ideen der Aufklärung und den großen bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts in unsere Welt gekommen ist. Es ist damals im Blick auf noch agrarisch geprägte Gesellschaften gedacht und begonnen worden. Mit unterschiedlichen Handlungsansätzen und in Herausbildung jeweiliger nationalspezifisch geprägter Traditionslinien haben die Arbeiterbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts daran angeknüpft. Sie sind so zu wesentlichen Trägern dieses immer wieder umkämpften Projekts geworden. Die im 20. Jahrhundert durchgesetzten Vorstellungen einer sozialen Bürgerschaft, wären ohne die Kämpfe der Arbeiterbewegung nicht erfolgt, ja nicht einmal denkbar. Es gibt aber in ihrer Geschichte zugleich immer wieder Beispiele für Unterschätzungen der demokratischen Dimension des mit der europäischen Aufklärung begonnen Projekts politischer und sozialer Emanzipation. (S. 61)
Es handelt sich bei diesem demokratischen Projekt der Moderne aber auch um eine prinzipiell nie abgeschlossene Aufgabe, vor die jede Generation wieder neu gestellt sein wird. Der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, Thomas Jefferson, hat das klar formuliert, und in den aktuellen Debatten um die Krise der Politik ist diese Einsicht wieder aufgegriffen worden. J. Schumacher hat 1978 diese aus der Tradition der europäischen Aufklärung heraus gestellte Herausforderung, die wir heute als Herausforderung für eine „Neue Wirtschaftsdemokratie“ verstehen, prägnant auf den Punkt gebracht: „Nötig und möglich wäre eine neue, klar dargebotene Synthese von Jefferson und Marx. Was immer in Amerika schiefgegangen ist, Jeffersons First Amendment verschafft einem jeden aufrechten Herz und Hirn das bestmögliche gute Gewissen, ja die Pflicht zur Gedanken-, Rede- und Pressefreiheit wie in keiner anderen Verfassung. Von Marx stammt die Methode systematischer Analyse und Kritik der wirklichen Produktions- und Distributionsverhältnisse des industriellen Kapitalismus. Dabei sind seine Analysen und Ergebnisse nicht als Fertigfabrikate einzukassieren, sondern ihrerseits kritisch zu erweitern. (…) Auffallenderweise hat gerade der korporative Kapitalismus am meisten von Marx gelernt, wieso und wie sehr es im Wirtschaftlichen auf Planung ankommt – eben auf geplanten Profit.“ (Schumacher,1978,378f) (S.61)
Die Verteidigung und Ausweitung des Projekts politischer und sozialer Emanzipation unter den heutigen Bedingungen weit fortgeschrittener Industrialisierung und Informatisierung wird aus vielen Antworten im Sinne des „global denken und lokal handeln“ bestehen müssen, was auch die Bearbeitung von Niederlagen, Fehlentwicklungen und Widersprüchen zum Zweck des Lernens beinhaltet. Entsprechende Vorstellungen können gesellschaftspolitische Durchschlagskraft nur gewinnen, wenn es gelingt, das widerständigen Denken und Handeln in den vielfältigen Anstrengungen um praktische Antworten in einen lebendigen Kommunikations- und Diskussionszusammenhang zu bringen. Der von H.-J. Urban vorgeschlagene Begriff der „Mosaiklinken“ bringt diese Anforderungen zum Ausdruck - möglicherweise aber immer noch zu eng und defensiv auf den klassischen Handlungsrahmen der „fordistischen“ Arbeiterbewegung hin gedacht. (S. 61, 62)
Dieser Herausforderungen der Zeit müssen sich auch die deutschen Gewerkschaften stellen – als Beitrag für die soziale Gestaltung der Weltgesellschaft, der Weltwirtschaft. Täten sie dies nicht, so liefen sie Gefahr auf einem neoliberal vorgezeichneten Weg den Kern ihrer herkömmlichen institutionellen Leitideen aufgeben zu müssen, für die gerade in Deutschland Vorstellungen von Wirtschaftsdemokratie eine große Bedeutung hatten. Was eine solche Aufgabe der eigenen „Seele“ bedeutet, mag allen die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie im Zeichen von „„New Labour“ vor Augen führen. Sie würden zu „Pressoure groups“ degenerieren, die im Bündnis mit Teilen der Wirtschaft und den jeweils favorisierten Fraktionen der politischen Klasse Partialinteressen von Mitgliedern wahrnehmen, die nur schwer mit – wie auch immer definierten – allgemeinen Interessen von abhängig Erwerbstätigen und Erwerbslosen in Einklang zu bringen sind““ (Dörre 2010b,13). K. Dörre konstatiert weiter, dass eine solche Entwicklung „hin zu stärker spezialisierten Interessenverbänden (…) zumindest in den kapitalistischen Metropolen nur schwer zu stoppen ist.“ (a.a.O.). Sie folgt der Logik eingeschliffener, von weiterer Erosion bedrohter, aber gerade durch die Krise auch neu belebter institutioneller Muster, und sie würde sich somit, im industriesoziologischen Jargon formuliert, pfadabhängig vollziehen – dabei aber eben nicht länger stabile Entwicklungsperspektiven eröffnen. Sie ist u. a. auch deshalb keineswegs unausweichlich vorgezeichnet. Wir befinden uns vielmehr in einer Phase tiefgreifender, epochaler Umbrüche und massiver Krisenprozesse. Die eingeschliffenen institutionellen Strategien und Mechanismen greifen nicht mehr überall. Die einmal durch sie hergestellte Ordnung wird zunehmend instabiler. Die Menschen merken dies, und neu aufbrechende soziale Konflikte zeigen, dass sich nach individuellem Rückzug und wachsender Parteienverdrossenheit auch wachsender Widerstand regt. Eine Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln als soziale Bewegung wird den Gewerkschaften damit als strategische Alternative nahegelegt. Die Chance, dass sie in den sozialen Konflikten, die kommen werden, neu aktivierter Bestandteil einer übergreifenden Bewegung werden können, ist gegeben. Die Zukunft ist offen und sie kann in Transformationsprozessen ohne vorgegebenes Ziel gestaltet werden. Ob dabei, im Sinne eines hayekianischen Elitendenkens, die Restauration des Untertanen bessere Zukunftsaussichten hat als, in der Tradition der europäischen Aufklärung, die Emanzipation des Menschen, ist deshalb auch keinesfalls entschieden. Dafür, wie die Antwort ausfallen wird, sind die Entscheidungen, die die Gewerkschaften in der gegenwärtigen Verzweigungssituation treffen werden, von größter Bedeutung. (S. 62, 63)
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