Spandauer Thesen - These 6
Organisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung
Der Kampf um die Organisierung der Interessen der abhängigen Arbeit in allen ihren Formen bleibt die zentrale Aufgabe gewerkschaftlicher Organisationen, auch wenn er teilweise seine Formen verändert und neue inhaltliche Anforderungen stellt.
Die Gewerkschaften sind heute angesichts der immer stärkeren politischen Angriffe auf die noch bestehenden Institutionen der Arbeitsgesellschaft der Gefahr ausgesetzt, sich einseitig auf die Verteidigung verbliebener Positionen zu beschränken und dazu an den mit ihnen verknüpften Politikmustern festzuhalten. Das macht es ihnen zugleich schwer, soziale Konzepte einer neuen, Widerstand mobilisierenden Netzwerkpolitik zu erproben. Angesichts des skizzierten Epochenbruchs stehen die Gewerkschaften mehr denn je vor der Frage nach der Gestaltung von Übergängen in der Gestaltung der sozialen Organisation gesellschaftlicher Arbeit, zumal dann, wenn angesichts des Bedeutungszuwachses der europäischen Handlungsebene, Hoffnungen vor allem auf den Neuaufbau entsprechender Politikmuster auf der europäischen Ebene gerichtet werden.
Demgegenüber ist zu betonen, dass die Gewerkschaften gerade auch im nationalstaatlichen Rahmen, wo sie auch heute vor allem präsent sind, ihre Handlungsmöglichkeiten ausschöpfen müssen.
Begründung
Der Kampf um die Interessen der abhängigen Arbeit, in ihren alten wie auch ihrer neuen, veränderten Gestalt, bleibt für die Gewerkschaften die zentrale Aufgabe, auch dann wenn sich die Schwerpunkte und Formen dieses Kampfes verändert haben und er im nationalstaatlichen Rahmen allein zunehmend schwerer und nicht einseitig zur Verteidigung noch institutionell befestigter Positionen zu führen ist. Für die Gewerkschaften heißt das, dass die Organisierung gewerkschaftlicher Interessenvertretung in einer Verbindung von bewährten und innovativen Formen eine ständig neu anzugehende Aufgabe bildet. Neue Formen der Netzwerkpolitik müssen gerade im gewerkschaftlichen Alltagshandeln entwickelt werden.
Netzwerkpolitik ist selbst Resultat des Formwandels der Politik im Zuge von Globalisierung, Europäisierung, zunehmender Marktregulation bzw. De-Regulierung und Privatisierung sowie den damit einhergehenden Pluralisierungs- und Individualisierungsprozessen. Sie ist die Reaktion auf die Transnationalisierung des Kapitals und den Bedeutungsgewinn sowohl transnationaler und supranationaler Organisationen als auch der lokalen Politikebene gegenüber dem Nationalstaat. Sie ist die Form, in der sich eine umkämpfte Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit auch europaweit und global herausbildet.
Es ist daher notwendig, in Netzwerkpolitiken alternative Öffentlichkeiten herzustellen und Räume zivilgesellschaftlicher Politik auszuweiten. Durch neue Kommunikationsmedien und auf der Grundlage, dass Aktive in Netzwerkpolitiken in hohem Maße Multiplikatoren sind, kann - im Zusammenhang mit in Wissensallianzen hergestellten verständlichen und fruchtbaren Brückendiskursen - dies geleistet werden. Nur demokratische und transparente Organisationsformen, horizontale und aneinander interessierte Umgangsweisen sowie OrganisationsvertreterInnen und WissenschaftlerInnen, die Erfahrungen und Wissen von Betroffenen ernst nehmen, können wieder Vertrauen schaffen. Sie bilden einen zivilgesellschaftlichen Raum, in dem kritische Ansätze der Sozialwissenschaften in tragfähigen, realitätstüchtigen Strategien fruchtbar werden und neue Leitbilder formuliert werden können.
In Netzwerkpolitiken entstehen neue Wissensallianzen, in denen die unterschiedlichen Formen disziplinär produzierten wissenschaftlichen Wissens, das als Bewegungswissen artikulierte implizite Handlungswissen von Betroffenen und Beteiligten sowie die neuen hybriden und transdisziplinären Wissensformen innerhalb von Brückendiskursen miteinander in Kommunikation treten. Für kritische WissenschaftlerInnen bieten diese neuen Wissensallianzen nicht nur die Möglichkeit, ihre Konzepte (öffentlichkeits-)wirksamer zu machen, sondern auch anschlussfähiger und realitätstüchtiger. Ein unwirksames und frustrierendes, isoliertes Nebeneinanderherarbeiten unterschiedlich gewonnener Erkenntnisse kann so eher überwunden werden.
Gewerkschaften sind sicher heute intellektuell gut aufgestellt und durchaus in Lage, sich mit ihren Aktiven und Gewerkschaftsintellektuellen produktiv in derartige Wissensallianzen einzubringen und von ihnen zu profitieren. Dies könnte nicht zuletzt auch Mitglieder aktivieren und zu neuen Mitgliedern führen, zeigen doch viele Studien, dass sich heute viele GewerkschafterInnen erst außerhalb der Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit politisiert haben, bevor sie dort aktiv wurden. Als größter Träger politischer Erwachsenenbildung in Deutschland könnten die Gewerkschaften in solchen Wissensallianzen entstehende Ergebnisse und neue Leitbilder weiterverbreiten und so zur „ökonomischen Alphabetisierung“(Bourdieu) gegen das neoliberale „Einheitsdenken“ beitragen.
Allgemeinpolitische gewerkschaftliche Erwachsenenbildung sind deshalb zu erhalten. Es müssen Anstrengungen unternommen werden, deren Teilnehmerkreis zu verbreitern.
Unter den veränderten Verhältnissen werden die verbliebenen Bastionen traditioneller Formen der Gewerkschaftsmacht von immer neuen Erpressungsversuchen des betrieblichen und verbandlichen Widerparts der abhängig Arbeitenden und ihrer Gewerkschaften bedroht. Die Verteidigungsposition, in die sie so gedrängt werden, macht es ihnen schwer, zugleich Konzepte einer neuen, Widerstand mobilisierenden Netzwerkpolitik zu erproben. Die spürbare Begrenztheit von Handlungsansätzen im nationalstaatlichen Rahmen kann zugleich zu illusionären Erwartungen führen - wenn angesichts des Bedeutungszuwachses der europäischen Handlungsebene Hoffnungen vor allem auf den Neuaufbau von traditionellen Handlungsmöglichkeiten auf der europäischen Ebene gerichtet werden. Daher müssen Gewerkschaften gerade auch im nationalstaatlichen Rahmen, wo sie immer noch vor allem präsent sind, ihre verbliebenen Handlungsmöglichkeiten ausschöpfen und durch Neuansätze von Netzwerkpolitik erweitern.
Hervorgegangen aus einer alten sozialen Bewegung sind die Gewerkschaften selbst zu, lange Zeit sehr erfolgreichen, Institutionen der Arbeit geworden. Gewerkschaftliche Arbeitspolitik ist vor diesem Hintergrund geprägt durch „institutionelles Denken“. Gerade vor dem Hintergrund verschärfter neoliberaler Angriffe auf die Stellung der Gewerkschaften in der Gesellschaft ist gewerkschaftliche Arbeitspolitik in hohem Maße immer auch auf die Verteidigung erreichter institutioneller Befestigungen ihres Handelns gerichtet. Dies macht es ihnen oft schwer, sich auf ihre eigenen Wurzeln als soziale Bewegungen zu besinnen und auf der Höhe der Zeit neue Konzepte der Mobilisierung von Widerstand zu erproben. Hinzu kommt, dass die andauernde Massenarbeitslosigkeit und der stetige Druck des hegemonialen neoliberalen Einheitsdenkens, vermittelt nicht zuletzt über die „FDPisierte“ mediale Öffentlichkeit, Mobilisierungskonzepte erschwert und als risikoreich erscheinen lässt.
All dies ist nicht von der Hand zu weisen, aber der Rückzug auf bisher schon erkämpfte institutionelle Positionen ist zu defensiv, eröffnet keine neuen arbeitspolitischen Optionen und wird auf Dauer allein dazu führen, dass einzelne, noch zäh verteidigte Positionen zunehmend unhaltbar werden.
Aktuell droht dieses Schicksal der institutionalisierten Mitbestimmung, die doch zum Gründungskonsens der Bundesrepublik Deutschland gehörte und im institutionellen Denken der Gewerkschaften einen besonders herausgehobenen Stellenwert hat. Selbst die Tarifautonomie erscheint mittlerweile von der nächsten „Schraubendrehung“ neoliberaler Modernisierung bedroht.
Im Sinne unserer dritten These kann man alles dies als folgerichtigen Ausdruck des Epochenbruches ansehen, dem wir uns gegenübersehen und in dem das neoliberale Einheitsdenken gerade keine tragfähigen Lösungen produziert. Weil dies so ist, weil Prekarisierung weiter um sich greift, die Integrationskraft der Gesellschaft weiter geschwächt wird und die Interessen derer, die allein von ihrem Arbeitsvermögen leben müssen, zunehmend verletzt werden, sind die Gewerkschaften angesichts des Epochenbruchs geradezu dazu gezwungen, den Kampf um die Interessen der abhängig Beschäftigten in allen seinen Formen zu organisieren. Dabei ist es wichtig, zu sehen, dass auch unter den neuen Formen abhängiger Arbeit („unselbständige Selbständigkeit“, „Arbeitskraftunternehmertum“) auch neue Formen der Artikulation von und Auseinandersetzung um Interessen entstehen.
Es wird für die Gewerkschaften zu einer Zukunftsfrage, an diese Formen „primären“ Interessenhandelns anzuknüpfen und den Menschen, den neuen individuellen zivilgesellschaftlichen Subjekten, die sich hier artikulieren, auch in den traditionellen Organisationen der lebendigen Arbeit Räume zur gemeinsamen Selbstverständigung neu zu öffnen. Nur so eröffnen sich die Gewerkschaften die Chance, durch breitere Organisierungsfähigkeit und Bündnisfähigkeit eigene arbeitspolitische Handlungsspielräume zurück zu gewinnen.